(1) Du Bastard

    1953 – Draußen heult der Wind, als wolle er die Welt daran erinnern, dass es auch an
einem Sonntag keine Gnade gibt. Der Regen peitschte gegen die schiefen Fensterläden des kleinen Hauses am Stadtrand. Im Zimmer roch es nach nasser Wolle, altem Holz und Eisenkraut – letzteres hatte Anna in siedendem Wasser aufgebrüht, zur Stärkung, wie sie sagte. Elisabeth war verschwitzt. Sie krümmte sich auf dem Bett, ihr Blick war leer. Ihre Haut klebte blass an den Wangenknochen und ihr Atem ging schwer wie ein durchgefrorener Karren auf einem matschigen Feldweg.
    »Atmen, Lieschen. Atmen. So. Und jetzt pressen.« Die Hebamme, eine kräftige Frau mit roten Wangen und dem Tonfall einer Generalin beugte sich über das zerwühlte Bett. Ihre Stimme war der Fels inmitten des Sturms, ihr Blick entschlossen wie der einer Frau, die zu viele Kinder hat, kommen und gehen sehen. Ihre Hände waren von der Kälte rissig, aber fest und tröstend.
Sie heißt Martha, und sie ist hier, um das Unvermeidliche zu begleiten: einen neuen Anfang. Elisabeth stöhnte. Kein Schrei, kein Jammern, nur ein dumpfes, tiefes Grollen aus der Kehle, das mehr sagt als Worte. Ihre dunklen Haare kleben ihr im Gesicht, und ihre Augen flackern zwischen Erschöpfung und Gleichgültigkeit. Noch keine 18 Jahre, schon gezeichnet. Kein Vater weit und breit, nur Gerede – vom Neffen der Nachbarn, der längst über alle Berge war.
Du schaffst das, Kindchen. Du bist nicht allein, hatte ihre Mutter gesagt. Anna saß an ihrer Seite, ihre schwielige Hand hielt die der Tochter fest wie ein Anker. Anna war klein, aber unerschütterlich – eine jener Mütter, die mehr mit den Augen sprachen als mit Worten. Ihre Lippen bewegten sich leise im Gebet, und zwischen all den Falten blitzte etwas auf, das man Hoffnung nennen könnte. Oder Trotz.
Ein letzter Schrei – Laut. Befreiend. Und dann, für einen Moment, Stille.
   »Ein Junge! Und was für einer«, selbst Martha strahlte.
Sie hob das nackte Baby hoch. Einen kleinen, runzligen Körper, noch voller Blut, voll Leben und Geschrei. Sie durchtrennte die Nabelschnur und wickelte ihn in Tücher.
   »Die Lunge funktioniert, das Herz schlägt wie ein Trommler im Sturm«, sagte sie. Ein Kind, geboren unter Schmerzen, Donner und Regen, in einem Bett auf durchgeschwitzten Laken. Elisabeth weinte. Nicht vor Freude, sondern vor Erschöpfung.

Anna nahm Martha das kleine Bündel ab. In ihren Augen sammelten sich Tränen. Martha tupfte derweil Elisabeth die Stirn, lächelte und sagte: »Bravo, du hast das großartig gemacht. Er hat den ersten Sturm überlebt. Ich sag dir was, er wird nie untergehen. Er kommt nicht auf die Welt, um wieder zu verschwinden.«
  Draußen donnert es erneut. Aber drinnen, in diesem ärmlichen, durchgeschwitzten Raum, begann ein neues Leben – leise, mit einem zaghaften Geschrei, das alles in sich trug: Wut, Wille, Hoffnungen und einen Schimmer Licht.
Anna freute sich: »Lieschen, ein Junge – er ist ein Sonntagskind!« Sie strahlte, als hätte sie das Kind bekommen. »Sieh ihn dir an. Was für ein Prachtkerl er ist.«
Sie legte das Bündel Elisabeth auf die Brust. Die war erschöpft und starrte auf das rote, runzlige, kleine Gesicht, das ganz nah vor ihrem lag.  
   »Ein gesundes Kind«, bestätigte Martha nochmals und sammelte die blutbeschmierten Tücher ein. Elisabeth war gezeichnet und erschöpft. »Lieschen, wie soll der kleine Kerl denn heißen?«, fragte Anna. Elisabeth drehte ihren Kopf zur Seite. Es sah aus, als würde sie sagen: Nimm ihn mir von der Brust. Kaum hörbar: »Edmund. Er soll Edmund heißen.« Und schlief ein.
Anna seufzte. »Herzlich willkommen, kleiner Edmund.« Paul öffnete neugierig die Tür des Schlafzimmers: »Alles in Ordnung?« fragte er. Anna nickte, nahm den Kleinen von Elisabeths Brust und hob ihn in die Höhe: »Es ist ein Junge, Paul. Er heißt Edmund.« Paul trat näher. Seine großen Hände waren unsicher, als Anna ihm das Bündel übergab.
Er lächelte und hielt das Kind ehrfürchtig auf seinem Arm.
   »Edmund, was für ein schöner Name.« Als der Kleine sich streckte, wurden Pauls Augen ganz groß. »Na schau einer an… so klein und schon voller Kraft. Er streckt sich, als wollte er den Himmel greifen.« Sein schwieliger Zeigefinger berührt die kleine Hand.
   »Seine Hände sind noch winzig, aber sie wollen schon alles umfassen, als wüssten sie, dass das Leben nicht wartet.« Anna trat heran und meinte: »Du kommst in eine Zeit, die nicht leicht wird. Das Brot ist noch knapp, die Sorgen groß, und die Menschen tragen mehr Last auf den Schultern, als sie je zugeben würden.«
Paul ist da optimistischer: »Aber vielleicht… vielleicht wird er einer, der sich nicht beugt, sondern streckt. So wie jetzt.«
Er sagt es ganz leise zu Edmund: 
»Merk dir das, mein Junge: Lass dich nie klein machen, auch wenn die Welt dich dazu zwingen will. Streck dich. Gegen die Kälte, gegen die Enge, für dein eigenes Leben. Und wer weiß – vielleicht wirst du genau das, was uns allen fehlt: ein Mensch, der frei atmet.« Anna schaute Paul verliebt an, ihre Augen strahlen: »Was habe ich für ein Glück. Meine Paulekin ist ein Poet.«

  Juni 1953 – Eberswalde steht Kopf. Im ganzen Land wurde gestreikt, denn man hielt die Regierung für unfähig, die Preise in den Läden für indiskutabel und die Arbeitsnormen für viel zu hoch. Acht Jahre nach Kriegsende wollten die Arbeiter nicht weiter unter russischer Aufsicht leben. Eberswalde war eine Garnisonsstadt.
Russische Soldaten besetzten die wichtigsten Knotenpunkte und die Besatzer bauten Drohgebärden auf. Mit einigen Verhaftungen konnten sie in Eberswalde eine Ausweitung der Streiks verhindern. Dafür brauchten sie in Ostberlin Panzer auf der Straße.

  Was einer jungen Frau in diesen Jahren nicht passieren sollte – mit 17 Jahren ein Kind zu bekommen. Anna kannte diese Situation, denn keines ihrer vier Kinder, alles Mädchen, war geplant auf die Welt gekommen. Da war ihr ein pragmatisches Vorgehen zu eigen geworden, und sie hatte Elisabeth, ihrer Spätgeborenen, keine Vorwürfe gemacht.
Eher sich selbst. Sie lebten in Berlin-Wedding.
Elisabeth war mitten in der Lehre zur Fleischverkäuferin, als es passiert war.
Anna hatte damals gelesen, dass in Ostdeutschland die Bedingungen für junge Mütter besser sein würden. Der andere deutsche Staat würde die Rolle der Frau als Mutter und Arbeiterin anerkennen und besonders jungen Müttern mit staatlichen Unterstützungen helfen.
Kurzentschlossen hatte sie entschieden, zum dritten Mal zu heiraten und mit ihrem Lieschen zu ihrem Paul nach Eberswalde zu ziehen. Als sie es Elisabeth sagte, heulte die den ganzen Tag, denn sie wollte nicht weg aus West-Berlin.
   »Mal ehrlich, Kind, wo sind denn deine Freundinnen, jetzt, wo du sie brauchst?«.
»Wie können sie nur freiwillig in die Ostzone ziehen? Da drüben geht es doch drunter und drüber. Man hört immer wieder, wer nicht pariert, mit dem macht der Russe kurzen Prozess – ab nach Sibirien«, meinte die Nachbarin Frau Steinbach genau zu wissen.
Ihr Neffe war der Vater des noch ungeborenen Kindes.
»Haben sie keine Angst, Frau Hennig?«
»Ach, wissen sie, Frau Steinbach, ob es die Amerikaner, Franzosen, Engländer oder Russen sind, das ändert nichts an der Tatsache, dass wir den Krieg verloren haben. Und wie immer müssen die kleinen Leute die Suppe auslöffeln, die die da oben uns eingebrockt haben. Mir ist es egal, wo ich die Suppe auslöffeln muss.«
So ließen sie eine sprachlose Frau Steinbach zurück.

Jetzt, wo der Kleine da war, machte sie sich Sorgen. 
Sie spürte, wie wenig Elisabeth sich auf das Kind freute. Zu groß war die Enttäuschung, dass der Vater des Kindes im Ruhrpott abgetaucht war…