(20) Die Lüge als Wahrheit

E.H. – Jahrgang 53. Sigmund Freud sagte einmal:
»Der Mensch kommt als neurotisches Wesen zur Welt.« Ich finde, das stimmt, denn wir alle wachsen in eine Gesellschaft hinein, die den Menschen frühzeitig in den Wahnsinn treibt. Ich habe über Jahrzehnte erfahren, wie Systeme, erst die DDR, dann das vereinte Deutschland aus Halbwahrheiten ganze Wirklichkeiten gebaut haben.

Wie die Menschen gelernt haben, mitzumachen, sich einzufügen, und wie Lügen sich irgendwann anfühlen, als wäre alles real. Und wie obszön es ist, dass man, wenn man lange genug dabei ist, irgendwann selbst nicht mehr weiß, was wirklich wahr ist. Nach 70 Jahren denke ich: Sie haben uns beigebracht, dass die Lüge die Wahrheit ist. Erst in der Schule, dann im Betrieb, dann in den Zeitungen, dann im Fernsehen. Wer dagegenhielt, war verdächtig. Wer schwieg, war klug. Wer mitmachte, hatte Ruhe. Und irgendwann – das ist das Obszöne – irgendwann glaubst du es selbst.
1953, 1989, 2023 – große Zahlen, große Daten, große Sprüche. Aber zwischen den Schlagzeilen, da war mein Leben. Und das war oft eine Lüge, die ich Wahrheit nannte. Siebzig Jahre – fast ein ganzes Jahrhundert voller Maskenbälle. Obszön ist das, wenn die Lüge so glatt und so laut wird, dass man sie selbst nachspricht.
Und doch – ich habe überlebt, viele haben mit mir überlebt.

Wenn ich heute die Jugend sehe, diese ungestümen Gesichter, die nicht mehr alles schlucken, dann spüre ich Hoffnung. Vielleicht ist es der Sinn der Geschichte, dass wir die Irrtümer tragen mussten, damit sie frei davon sein können. Vielleicht werden sie den Mut haben, Wahrheit zu nennen – auch wenn es unbequem ist. Ich weiß nicht, ob man nach siebzig Jahren noch von Anfang sprechen kann. Aber ich weiß: solange die Jungen weiter Fragen stellen, solange sie sich nicht zufrieden geben mit den alten Lügen, solange gibt es Zukunft.
Und das, das ist stärker als jede Obszönität.

Jede Zeit hat ihre eigene Besonderheit. Wir leben in einem Zeitalter, in dem vieles gleichzeitig geschieht. So viele Dinge waren noch nie gleichzeitig wahr, möglich und sichtbar. Informationen sowie Falschinformationen existieren nebeneinander. Freiheit und Überwachung sind gleichzeitig real. Globaler Reichtum und massive Armut liegen nur einen Klick auseinander. Digitalisierung, Klimawandel, Raumfahrt, KI und spirituelle Sehnsucht geschehen zur selben Zeit wie die Vereinsamung vieler Menschen.

Dieses Zeitalter zeichnet sich durch Beschleunigung aus. Kommunikation, Produktion, zudem, Entscheidungen laufen schneller ab. Unser Inneres kommt mit diesem Tempo manchmal klar, manchmal nicht. Viele Menschen fühlen sich müde und überfordert, obwohl sie materiell alles besitzen. Dieses Zeitalter zeigt auch Orientierungslosigkeit. Alte Ideologien und große Erzählungen zerfallen.
Die Menschen fragen sich, was wirklich zählt, was wahr ist und wem sie noch vertrauen können. Dennoch bietet diese Zeit ungeahnte Möglichkeiten. Nie zuvor gab es so viele Wege, sich zu verwirklichen, sich zu verbinden und sich zu verändern. Wer mutig seinen Weg sucht, findet ihn jetzt vielleicht leichter als je zuvor.

Ich sitze am großen Panoramafenster, das einen wunderbaren Blick in den Garten bietet. Die Teetasse dampft noch. Jeden Morgen frühstücken mit mir ein paar Meisen. Einige nehmen wie jeden Morgen ein Bad in dem kleinen, künstlichen Teich, den ich angelegt habe. Vor einiger Zeit blickte ich noch in Köln aus dem Fenster. Da liefen Menschen vorbei, die ins Handy redeten, oder Kopfhörer trugen. Sie waren schwer zu greifen, wie Geister aus einer Zukunft, die längst Gegenwart geworden sind. Früher musste man warten, zum Beispiel auf einen Anruf, den nächsten Bus oder einen Brief. Heute wartet niemand mehr.
Alles verlangt sofortige Antworten. Gleichzeitig verliert sich jede Bedeutung in der ständigen Verfügbarkeit. Alles ist offen, aber irgendwie auch beliebig.
Freiheit, frage ich mich, ist nicht das Gleiche wie Sinn.
Ist Wohlstand heute nicht eher ein Zuviel als ein Zuwenig?
Ich streife mit einem Blick über mein Handy auf dem Tisch.
Damals – hat man sich noch richtig verabredet.
Jetzt trifft man sich digital und verfehlt sich real. Junge Menschen wachsen in einer Welt auf, in der vieles möglich ist, aber sie wissen nicht mehr, wofür.
Die Alten tragen Geschichten im Kopf, die niemand mehr hören möchte.
Und ich selbst? Ich lebte zwischen den Zeiten, in Ost als auch West.
Zwischen damals und jetzt.
Ich komme aus einer Zeit, in der die Zukunft etwas war, das man sich erträumte. Heute scheint sie etwas zu sein, dem ich entkommen will. Die Welt hat sich rasant verändert, nicht nur technisch, sondern auch seelisch.
Früher ging es um Haltung, heute oft nur noch um Reichweite. Die Zeit schlich damals, sie rast heute. Einst herrschte eine Mangelgesellschaft, heute regiert der Überfluss. Doch was ist diese merkwürdige Leere in vielen Gesichtern?
Ich weiß, man kann das Rad nicht zurückdrehen. Aber man kann aufrecht darin stehen, mit offenen Augen, mit dem, was man erlebt hat und was man noch erzählen muss.
Milliarden von Menschen verbringen mehr als die Hälfte ihres Lebens vor Bildschirmen und konsumieren Bilder des Grauens. Es wird immer schwieriger, noch zu unterscheiden, was real und was ein Fake ist. Realität oder Fiktion, Wahrheit und Lüge werden gleichermaßen in Hochglanz präsentiert.
Ein Ende ist nicht abzusehen.
Wer hat sich das nur ausgedacht, dass Nullen und Einsen die Welt beherrschen?
1 oder 0 – Leben oder Tod.
Wie einst Pest und Cholera verbreitet sich der ansteckende Glaube, unbedingt einer Idealvorstellung entsprechen zu müssen. Nur wenige merken, dass sie dabei etwas Unfassbarem nachjagen, und so rennt der ganze Rest unaufhaltsam der Zeit hinterher. Was bedeutet eigentlich Zeit?
Karlheinz A. Geißler, ein Philosoph und Zeitforscher, sagte:
»Das, was für Fische das Wasser ist. Ein Element, in dem sie sich bewegen.
Die schwimmen darin, ohne nachzudenken, worin sie schwimmen.
So geht es den Menschen mit der Zeit.«
Oft überfällt uns das Gefühl, die Zeit rennt davon.
Der digitale Weg, auf dem wir uns inzwischen fortbewegen, hat unser Leben verändert. Der Takt der Prozessoren hat sich verkürzt, und wir sind zu ruhelosen Sklaven des Fortschritts geworden.
Wer heute nicht Multitasking-fähig ist, gilt als „Out“.
Die Pest, die im 13. Jahrhundert ein Drittel der Weltbevölkerung das Leben kostete, ist heute unter dem Begriff „Kommerz“ unterwegs. Es ist beängstigend, wie die permanente Reizüberflutung uns konditioniert.
Der Dauerbeschuss der Medien macht nicht nur blind, sondern manch einen auch blöd. Sie predigen von ewiger Jugend, der neuen Lust auf Körperkult und, leider immer noch: „Geiz ist geil!“ Das ist nicht nur unmöglich, das ist Folter!
In zahllosen Konsumtempeln dröhnt ständig Bass-lastige Musik, beschleunigt unseren Herzrhythmus und lässt den Adrenalin-Spiegel unentwegt steigen.
So wird ein positives Lebensgefühl vermittelt und unser Bedürfnis geweckt – Blödsinn, das macht es nicht. Es nervt! All das dient ausschließlich der Manipulation. Betrittst du ein Geschäft, hast du schon verloren.
Wenn du es verlässt, hast du unnötige Dinge in der Tasche. Shit Happens – dumm gelaufen! Alles ist ganz einfach.
Unserem Unterbewusstsein wird suggeriert, dass wir unzufrieden sind. Wie kann man das ändern? Man belohnt sich. Das nennt sich Konsumverhalten.
Umgebe ich mich mit vielen Dingen, bin ich ein guter Konsument. Tue ich das nicht, bin ich das Gegenteil davon.
Das ist kultivierte Maßlosigkeit, wie ich finde, was heute gern als „geiles Leben“ bezeichnet wird.
Ein Leben ohne Handy ist für viele Menschen undenkbar. Das Hamsterrad rotiert und unbemerkt erhöht sich das Tempo. Das ist doch Wahnsinn!
Apps haben unser Leben an sich gerissen und sind für viele Nutzer der einzige Orientierungspunkt für Körper und Geist. Manch einer kann kaum noch seinen eigenen Namen mit der Hand schreiben. Und Kopfrechnen? Besser nicht!
Neulich fragte ich einen 15-Jährigen: Wieviel sind 20 Prozent von 100?
Antwort: „80.“
Wie viele Menschen nutzen aktuell soziale Medien?
Etwa 3,5 Milliarden – Freiwillig!
Social media hat aus uns den gläsernen Menschen gemacht. Dagegen wirken die Machenschaften der Stasi aus der ehemaligen DDR wie ein lustiges Gesellschaftsspiel, was es wirklich nicht war. Hatte die Stasi hauptsächlich das Leben der Andersdenkenden im Visier, werden heute mit den persönlichen Daten eines jeden Menschen, seinen Vorlieben, Träumen und Ängsten ein lukrativer, milliardenschwerer Handel getrieben. Immer noch unter dem Motto:
„Nichts ist unmöglich!“