(5) Das Lümmelheim

Vom Bahnhof Burg ging sie mit ihm zielsicher quer durch die Stadt. Fünfzig Jahre alt schätzte Ed seine Begleiterin. Sie trug einen dunkelbraunen Mantel, der von einem schmalen Gürtel zusammengehalten wurde, und einen Hut, der sie streng aussehen ließ. In der linken Hand hielt sie eine Aktentasche und mit der rechten Hand umfasste sie, seitdem sie den Zug verlassen hatten, fest sein linkes Handgelenk. Ed war sich sicher, wenn er gewollt hätte, wäre er ihr entwischt. Doch es war Anfang Februar und sehr kalt.
   »Ich bin für dich Frau Schröder«, hatte sie in Eilenburg gesagt und danach kein einziges Wort. Am Stadtrand überquerten sie einen Bahnübergang und wenig später bogen sie rechts in eine lange Allee ein. In der Ferne war ein großes Gebäude zu erkennen.
Da muss es sein, dachte Ed. Die hohen, blätterlosen Bäume waren Pappeln. Er erkannte es an der Rinde. Sie standen am Rande seines Weges, wie ein stummes Publikum, das die Ankunft des neuen Delinquenten beobachtete. Je näher sie dem Gebäude kamen, umso mehr fühlte es sich für Ed nicht gut an. Seine Schritte wurden langsamer, als wollte er instinktiv das Ganze hinauszögern. Sie blieb stehen und schaute ihn mit einem strengen Blick an, als wollte sie sagen, hab dich nicht so, es ist nichts mehr zu ändern.
   »Neuzugang aus Eilenburg«, sagte sie am Eingang, wo ein Pförtner in einem kleinen Kabuff saß. Er nickte, stand auf und zeigte nach rechts. 
»Gehen Sie …« Sie unterbrach ihn: »Danke, ich kenne den Weg.«
Eine Minute später standen sie vor einer Tür mit der Aufschrift: Sekretariat. Sie klopfte an. »Herein« hörten sie drinnen eine Frauenstimme sagen. Erstmals löste Frau Schröder ihren Griff, öffnete die Tür und schob ihn vor sich her in den Raum.
   »Guten Tag. Neuzugang, Edmund Hennig, vierzehn Jahre, § 50 in Verbindung mit § 23.« Sie nahm einen Schnellhefter aus der Aktentasche und legte ihn auf den Tresen, worauf die junge Frau dahinter aufstand, den Schnellhefter nahm und weiter zur Tür mit dem Schild „Heimleitung” ging.
   »Du wirst bereits erwartet, Genossin«, sagte sie im Gehen und öffnete die Tür: »Der Neuzugang aus Eilenburg, Genosse Otto.«
Frau Schröder packte Ed am Handgelenk und zog ihn hinter sich her. Als sie den Raum betraten, hörte er als Erstes: »Wen haben wir denn da? Das ist aber eine Überraschung. Einen guten Tag, Genossin Schröder, lange nicht gesehen.«
Hinter einem schmucklosen Schreibtisch erhob sich schwerfällig ein großer, dicker Mann mit Glatze. 
Der Typ war riesig und furchterregend. Ed blieb stehen, wo sie ihn losließ, und stellte seine Tasche neben sich auf dem Fußboden ab. Der Glatzkopf bot Frau Schröder den Stuhl vor dem Schreibtisch an. Ohne Ed wahrzunehmen, schenkte er ihr seine ganze Aufmerksamkeit: »Wie geht es denn meinem lieben Genossen Karl-Heinz?«
Sie holte tief Luft, bevor sie ihm antwortete: »Wie es dem Genossen Schröder geht, kann ich dir nicht sagen, wir sind seit Oktober geschieden.«  
   »Oh, das habe ich nicht gewusst. Das tut mir leid.« Sichtlich überrascht fehlten ihm die passenden Worte.
   »Keine Sorge, es ist alles in bester Ordnung, wir haben uns im Guten getrennt. Manchmal merkt man erst später, wenn der Deckel nicht auf den Topf passt.«
Ed fiel das schief hängende Bild auf, das hinter der Glatze hing.
Walter Ulbricht, der Staatsratsvorsitzende. Es sah so aus, als würde er den beiden zuhören. Auf dem Aktenschrank links hinter ihm stand eine vertrocknete Grünpflanze. 
Rechts vor ihm stand auf dem Schreibtisch ein schwarzes Telefon.
Auf der anderen Seite lagen zwei Aktenordner.
Der Typ brachte bestimmt 150 Kilo auf die Waage. Er wedelte unentwegt mit einem Taschentuch in der Hand herum, mit dem er sich mehrmals den Schweiß aus dem Nacken wischte. »Kommen wir zu dem, weshalb ich hier bin.
Dieser junge Mann hier heißt Edmund Hennig, ist vierzehn Jahre alt, und kommt aus Potsdam §50 in Verbindung mit § 23, alles Weitere steht in den Unterlagen.«
Sie zeigte auf den Hefter, den die Sekretärin auf der vorderen Ecke des Schreibtisches abgelegt hatte. Jetzt schaute die Glatze Ed das erste Mal an.
   »Interessant, einen Edmund haben wir hier noch nicht. Dann schaue ich mal, wen wir da haben.« Er nahm den Hefter und begann darin zu lesen. Frau Schröder unterbrach ihn: »Entschuldigung, wenn das in Ordnung ist, würde ich gern wieder aufbrechen. Auf mich warten zwei pubertierende Töchter.«
Sofort legte die Glatze den Hefter zur Seite und erhob sich mit viel Mühe. »Selbstverständlich, Genossin.« Sie verabschiedeten sich mit Küsschen links, Küsschen rechts. Er brachte sie bis zur Tür. »Wenn es noch Fragen gibt, melden wir uns. Lass dir von der Genossin Müller die Übergabe quittieren. Ich wünsche gute Heimfahrt und alles Gute für dich und deinen Mädels.«
Als die Tür geschlossen wurde, hatte Ed sich noch immer nicht von der Stelle gerührt. Plötzlich beugte sich die Glatze über seine rechte Schulter: »Willkommen im Jugendwerkhof August Bebel.« Ed stieg der Geruch von schlechtem Atem in die Nase.
Schwer atmend ging die Glatze um den Schreibtisch herum und ließ sich wie ein nasser Sack auf den Stuhl fallen. Der Typ war groß, fett, und seine Augen sahen wie zwei Glaskugeln aus. Er nahm den Hefter mit Eds Unterlagen und blätterte darin. Ohne aufzuschauen, sagte er: »Vermutlich wissen sie, warum sie hier sind.«
Nein, ich weiß das nicht, dachte Ed. Es hatte ihm niemand gesagt, warum sie ihn hierhergeschickt hatten. Er war nur froh gewesen, nicht wieder nachhause zu müssen. Trotzdem, er nickte fast unbemerkt. Der Typ schwitzte und atmete schwer.
»Das hier ist ihre letzte Chance. Wenn man so will, die allerletzte Chance, ein wertvoller Bürger unserer Gesellschaft zu werden.« Beim letzten Satz durchbohrten ihn diese zwei unheimlichen Augen. »Ich hoffe, dass das ihnen klar ist.«
Ed bewegte wieder nur leicht den Kopf. Noch immer stand er an seinem Platz.
Eindringlich ergänzte die Glatze: »Sollten sie persönlich andere Ziele verfolgen, wird das hier keine schöne Zeit für sie.«
Er merkte, die Glatze wollte ihm Angst machen. Bevor er weiterredete, wischte er sich erneut mit dem Taschentuch den Schweiß aus dem Genick. »Hier gibt es Regeln, wer sich nicht daranhält, muss mit entsprechenden Konsequenzen rechnen.«
Eindringlicher begann er danach aufzuzählen: »Regel Nummer eins der Heimordnung lautet: Dem Jugendlichen ist es nicht erlaubt, sich von seiner Gruppe, Gruppenunterkunft, seinem Arbeitsplatz oder der Berufsschule zu entfernen. Jeglicher Verstoß gegen diese Regel wird geahndet. Dies beginnt mit dem Entzug sämtlicher Vergünstigungen.
Das kann auch Tragen von Heimkleidung bedeuten, nebst eines speziellen Haarschnittes. Weniger zu empfehlen ist auch ein mehrtägiger Aufenthalt in unserem Erholungszentrum. Für ganz Uneinsichtige geht es nach Torgau in eine geschlossene Einrichtung.« Ed dachte an Eilenburg und wünschte, sie hätten ihn dabehalten.
»Hören sie mir überhaupt zu?«
Ed erschrak, er hatte nicht mitbekommen, wie die Glatze auf der Ecke des Schreibtisches Platz genommen hatte. »Wo sind sie mit ihren Gedanken? Sie fangen ja gut an.«
Ed war hellwach: »Nein, nein, ich höre ihnen zu, ich verstehe …«, stotterte er und versuchte, seine Aufmerksamkeit wiederzuerlangen. Der Glatzkopf redete weiter:..