
(3) AUF TREBE
In Eds Gedankenwelt herrschte Chaos. Schon oft war er im Traum von zuhause wegzulaufen, da war das ganz einfach. Jetzt, wo er im Zug nach Berlin saß, war das Gefühl ein anderes. »Hallo, junger Mann, Endstation.«Plötzlich stand der Zugschaffner vor ihm. Ed hatte mit offenen Augen geträumt und wusste im ersten Moment gar nicht, was der Mann von ihm wollte.Schließlich sprang er auf, verließ den Zug und überquerte den Übergang zur S-Bahn. Auf dem S-Bahnhof Alexanderplatz verstaute er seine Taschen in einem Schließfach. Danach staunte er, denn der Fernsehturm war wieder ein Stück gewachsen. Es war kurz vor Mittag. Trotz Großbaustelle war auf dem Alex wie immer viel los. Als er den Imbiss betrat, stellte er sich in die Schlange, wo es die Eintöpfe gab.
Auf der Tafel las er: Erbseneintopf – Linseneintopf ohne – 0,60 M.
Mit Bockwurst – 1,20 M. Bockwurst mit Brot – 0,85 M. Halbes belegtes Brötchen – 0,25M .
Er beobachtete die Leute, wie sie ihre Bestellungen aufgaben. Als er an der Reihe war, sagte er: »Erbseneintopf mit.« Er legte das Geld auf den Teller, wie es alle vor ihm taten. Ohne ihn anzuschauen, stellte die korpulente Frau hinter dem Tresen eine Terrine vor seine Nase. Ihre Kittelschürze war bekleckert und die Kochmütze zu klein. Mit einer Schöpfkelle füllte sie als die Suppe in die Terrine und nahm mit einer Holzzange eine Bockwurst aus dem Topf.
»Nun jeben’se dem Kleenen doch nicht so ‘ne uffgeplatzte Wurst, Jenossin. Unsere Jugend muss groß und stark werden. Ist doch alles für den Sozialismus!«, sagte hinter Ed ein Mann so laut, dass es alle hören konnten.
Die Frau hinter dem Tresen stoppte, schaute den Mann einen Moment genervt an, bevor sie ihm antwortete. »Na, dann kommense ma her, Genosse, und erklärense mir, wie ick die Wurst davon abhalten kann, uffzuplatzen, wenn se im heißen Wasser schwimmt.«
Ihre Stimme war tief und brummig. Als Ed nach der Terrine griff, legte die Frau ihre Hand ganz ruhig auf den Rand der Terrine, hielt sie fest und zwinkerte Ed zu.
»Dit is doch nich nur’n Wurstproblem, dit is Physik, wenn se wissen, wat ick meine,« fügte sie hinzu. Mit ernster Miene sagte sie: »Erstens, Männekin, ick bin keene Jenossin und Zweetens, wenn se glooben, det eene uffgeplatze Bockwurst euren Sozialismus schadet, na dann, prost Mahlzeit.« Der Mann sagte nichts mehr. Die Frau lächelte Ed an:
»Na jut, meen Kleener. Ick werde mal nich so sein und dir een strammes Würstchen spendieren. Sonst behauptet nachher der Jenosse Onkel hinter dir, ick würde seinen Sozialismus sabotieren. Det jibt denn Ärjer, det will ick och nich.« Sie legte die aufgeplatzte Bockwurst zurück in den Topf und legte Ed eine nicht aufgeplatzte Bockwurst in die Terrine. »Lass et dir schmecken, meen Kleener.«
Ed trug die Terrine davon.
»Und, wat darf et für sie sein, Jenosse Staatsratsvorsitzender?«
Ed hörte, wie der Mann ganz kleinlaut sagte: »Linseneintopf mit – Bitte.« Die Stehtische waren für Ed zu hoch. Einen Moment stand er etwas hilflos zwischen den Tischen.
»Komm hierher, Kleener«, sagte hinter seinem Rücken jemanden. Als er sich umdrehte, wäre ihm beinah die Terrine aus den Händen gerutscht. Vor ihm stand ein hochrangiger Polizist. Ein Major, er sah es an den Schulterstücken.
»Setz dich, ich bin fertig«, sagte der freundlich. Ed zögerte keinen Moment, stellte die Terrine ab und setzte sich auf einen der wenigen Hocker, der am Boden festgeschraubt war. »Danke, Genosse Major,« erwiderte er höflich. Der Mann nickte und verließ den Imbiss. Ed schaute ihm noch kurz hinterher und begann dann, seine Suppe zu essen. Dabei sah er sich um. Am Nachbartisch hatte sich eine Frau gerade bekleckert und versuchte vehement, den Fleck mit einem Taschentuch aus ihrer weißen Bluse zu reiben. Am Tisch daneben stand ein älterer Herr und kämpfte mit der Wurstpelle. Dafür hätte er zuhause eine Ohrfeige kassiert. Seine Mutter hätte gesagt: Mit Essen spielt man nicht. Sitz gerade und schlürf nicht so. Von seinem Platz aus konnte Ed alles gut überschauen.
An einem anderen Tisch aß ein Mann sehr hastig die Suppe. Er erschrak, als er auf seine Armbanduhr schaute. Sofort legte den Löffel ab und verließ eiligst den Imbiss….
…
Sie waren noch einmal umgezogen und standen jetzt in Bernau. Als in der zweiten Abendvorstellung alle Artisten und Helfer, wie auch er, schon zum Finale bereitstanden, sah er sie sofort, drei Polizisten. Was wollen die denn hier, fragte er sich. Als plötzlich Eduard neben ihnen auftauchte und in Richtung des Vorhanges zeigte, wusste er: das galt ihm. Eduard hatte nie aufgegeben. Er wollte ihn unbedingt entlarven.
Die Zirkusluft, die Eds Sinne wie an allen Abenden betäubt hatte, bekam plötzlich einen bitteren Beigeschmack. Er wusste sofort, hier endete ein wunderbares Abenteuer.Die Musik des Orchesters, das Lachen und der Applaus der Zuschauer konnte nicht mehr das plötzliche Pochen in seinem Kopf überdecken. Sie kamen näher. Sein Herz raste wie wild. »Finale!«, rief Kurti, weil er sah, dass Ed sich verdrücken wollte. Ed machte ein Zeichen, dass er gleich wiederkommen würde und verschwand aus dem Zelt. Kaum hatte er es verlassen, rannte er so schnell er konnte zum Wohnwagen. Er zog sich blitzschnell um, legte seine geliebten Zirkussachen ordentlich aufs Bett, stopfte seine Sachen in seine beiden Taschen und verließ unter Tränen den Wohnwagen. Er hörte die Lipizzaner wiehern, als wollten sie ihm Glück wünschen. Seine Füße berühren gerade den Erdboden vor dem Wohnwagen, als er hörte, wie jemand nach ihm rief: »Franky! Franky!«
War das Kurtis Stimme? Er blieb stehen, sein Atem ging flach und schnell. Wieso rief Kurti nach ihm, er musste doch beim Finale in der Manege sein. Er hatte nur einen Gedanken – ich muss weg. Aber wohin?
Der Wohnwagen in dessen Lichtschatten er stand, stand zentral auf dem Gelände. Bis zum Zaun waren es bestimmt noch zwanzig bis dreißig Meter. Die Zäune waren zwei Meter hoch und ringsum war alles hell erleuchtet. Er kannte eine Stelle, wo er problemlos durchkommen würde. Er versuchte im Schatten eines Lastwagens dem Zaun etwas näher zu kommen. Eine Löwe brüllte. Jetzt fehlte nur noch, dass sich Rani mit einem lauten Trompeten verabschieden würde, dachte er.
Tiere spüren, wenn es einem nicht gut geht. Der Transportwagen! Ohne nachzudenken, rannte er im Schatten in dessen Richtung, klettert hinein und zog die Tür ran.
Er versteckte sich hinter Kisten, während er nach draußen lauschte. Die Schritte kamen näher. »Wir wissen, dass du hier bist, Franky, oder wie dein Name auch sein mag.«
Jetzt hatte er die Stimme erkannt. Das war nicht Kurti, das war Eduard. Er spürte Eduards Entschlossenheit. Ihm wurde kalt vor Angst. Er hörte, wie Eduard sagte: »Ich habe nachgeschaut, seine ganzen Sachen sind weg. Ich habe gleich gerochen, dass bei dem was nicht stimmt.
Auf meine Nase kann ich mich verlassen.« Eine zweite Stimme sagte: »Der kann noch nicht weit sein. Kommt! – Danke Genosse.«
Ed wagte kaum zu atmen. Sie schienen sich zu entfernen. Draußen wurde es still, aber in seinem Kopf herrschte großes Chaos. Er hatte große Angst, dass sie ihn zurückbringen.
Als er den Zaun endlich überwunden hatte, hängte er sich seine Taschen um und rannte in eine kalte, klare Nacht hinein. Immer wieder schaute er sich nervös um. Tauchte ein Auto auf, suchte er sofort eine Deckung.
Der Zirkus lag weit hinter ihm, da hörte er sie trotzdem trompeten, Rani. Dreimal trompetete sie. Ed blieb stehen – er heulte. „Mach es gut, Rani“, schluchzte er und schaute in Richtung Zirkus. Dicke Tränen liefen über sein Gesicht.
Er wusste, er würde Rani vielleicht nie mehr wiedersehen. Ed rannte, weil es keinen anderen Ausweg gab. Rein in die Nacht, weg von den Lichtern, weg vom Zelt, weg von Kurti, weg von Rani. Kein Blick zurück. Nur laufen.
Laufen, bis die Lunge brannte. Irgendwann fand ihn die Dunkelheit. Und mit ihr eine Garage. Offen, verlassen, chaotisch wie seine Gedanken. Er kauerte sich zwischen öligen Lappen und kaputten Reifen. Schlief irgendwann ein, weil der Körper mehr wusste als der Kopf. Der Morgen kam mit kaltem Licht. Durch ein zersprungenes Fenster fiel ein Streifen Helligkeit auf sein Gesicht. Staub tanzte darin. Sein Rücken schmerzte. Sein Bauch knurrte. Sein Herz war schwer. Alles war fremd. Kein Elefant, der leise atmete. Kein Kurti, der ihn Elf nannte. Keine Conny, die lachte. Nur er. Und der Gestank von altem Öl. Erst als er sich auf dem Klo am Alexanderplatz erfrischt hatte und andere Sachen anhatte, fühlte er sich ein wenig besser. Ed dachte an den Zirkus.
Bestimmt waren alle enttäuscht von ihm. Mit einem leeren Magen und schweren Gedanken machte er sich auf den Weg zum Imbiss. Zwei halbe Hackepeter Brötchen und ein großer Kakao verschönten für den Moment seine unglückliche Situation. Diesmal entdeckte er einen freien Hocker. Während er aß, entschied er, noch bis zum frühen Nachmittag unsichtbar zu bleiben und fuhr ins Tageskino in die Schönauer Allee. Auch musste er sich aufwärmen.

